Die Menschen in Industrienationen sind gestresst. Sie nehmen einen hohen Leistungsdruck wahr. Die Arbeitswelt fordert ständige Erreichbarkeit, Effektivität und Produktivität. Die Folgen reichen von Überforderung hin zu Burnout. Das Wettbewerbsdenken des beruflichen Alltags wird auch ins Private übertragen. Unterschwellig wird darum gerungen, wer sich am besten kleidet, das schlauste Kind hat oder den schönsten Urlaub verbracht hat.[1] Die Menschen wünschen sich Rückzugsorte – weg von Hektik und Effektivitätsdenken. Die gesellschaftliche Sehnsucht formuliert sich in Entschleunigung-Trends. Dazu zählen beispielsweise Slow Food, Slow Architecture, Slow Media, Slow Living und auch Slow Travel.
Slow Travel entstand, um den Tourismus zu entschleunigen. Wie die anderen Slow-Bewegungen wurde Slow Travel von der Slow Food-Bewegung inspiriert. Diese wurde 1986 u. a. durch den Italiener Carlo Petrini gegründet. Der Gründung waren einige negative Entwicklungen in der Lebensmittelindustrie Italiens vorangegangen. Einerseits gab es 1985 einen Methanol-Skandal in der italienischen Weinbranche. Einige Menschen starben, da Wein mit Methanol gestreckt war. Darüber hinaus öffnete McDonald’s eine Filiale in der Altstadt Roms. Öffentliche Diskussionen entstanden über die Tradition und Bewahrung der italienischen Küche. In einer Protestaktion bauten Journalisten auf einem Platz in Rom einen Tisch auf und servierten traditionelle Gerichte. Das Spektakel gilt als legendäre Aktion gegen Fast Food in Italien. Petrini war zwar nicht in die Aktion verwickelt, sie wird jedoch in einem Atemzug mit der Entstehung von Slow Food genannt. Mittlerweile hat die Slow Food-Bewegung über 80.000 Mitglieder weltweit. Die Vereinigung hat sich der Förderung von genussvollen, bewussten und regionalen Essen verschrieben. Unter dem Leitsatz „Gut, sauber und fair“ ist das Ziel, die traditionelle Küche zu erhalten und regional angebaute und lokal produzierte Produkte zu verwenden.[2]
Gründerin des Slow Travel-Trends ist Pauline Kenny. Ab dem Jahr 2000 nutzte die Amerikanerin den Begriff Slow Travel auf ihrem Blog slowtrav.com, der heute nicht mehr existiert. Heute unterhält sie auf sloweurope.com Foren zu Slow Travel in Europa.[3] Zur Entstehungsgeschichte schreibt sie:
„Ich nahm den Begriff ’Slow’ von der Slow Food-Bewegung. Diese ist auf gute Qualität und nachhaltige Speiseerfahrungen ausgerichtet. Uns geht es um gute Qualität und nachhaltige Erfahrungen beim Reisen. ’Slow’ bedeutet nicht, dass das Essen langsam zubereitet wird oder das Reisen langsam geschieht, stattdessen wird die Einstellung gefördert, dort zu leben, wo man hohe qualitative Erfahrungen sammelt, die Dinge, die einem passieren wertschätzt, man sich die Zeit nimmt, wirklich zu genießen, was das Leben zu bieten hat.“[4]
Es geht darum, den Moment zu genießen. Kenny definiert Slow Travel als Reisen, das einen tieferen Einblick in den Urlaubsort zulässt. Ab 2006 verwendete auch die britische Presse und britische Blogger den von Kenny erschaffenen Begriff. Es entstanden neue Assoziationen. Slow Travel wurden Regeln zur Fortbewegung angehängt. Beispielsweise gab es eine Auslegung, nach der Slow Travel Zugreisen bedeutete. Auch entstand die Annahme, dass Flugzeuge verboten seien.[5] Diese Deutungen führten zu einer Vielzahl verschiedener Auslegungen und formte den Slow Travel-Trend, wie er heute individuell gelebt wird.
Ab 2009 bauten die Autoren des britischen Reisemagazins Hidden Europe den Begriff Slow Travel weiter aus. Reiseautorin und Herausgeberin Nicky Gardner verfasste ein Slow Travel-Manifest. Es erschien in der 26. Ausgabe von Hidden Europe. In dem Manifest beruft sie sich auf Reiseautoren des 19. Jahrhunderts. Diese kritisierten damals schon die Geschwindigkeit der modernen Fortbewegungsmittel, die Postkutsche. Rund 200 Jahre später sind Reisende mit Zügen und Flugzeugen noch schneller unterwegs. Gardner kritisiert, das Reisen würde nicht mehr als Bewegung gesehen, sondern als notwendiges Übel, um an die Urlaubsdestination zu gelangen. Die Ankunft werde ungeduldig abgewartet, die tatsächliche Reise gar nicht wahrgenommen. Es ginge nur darum, so schnell wie möglich anzukommen.[6] Gardner wünscht sich einen Wandel der Reisementalität:
„Wenn wir Slow Food und Slow Cities haben, warum nicht auch Slow Travel?“[7]
Die Tourismusbranche nahm den Slow Travel-Begriff schnell auf. 2010 widmete der britische Reiseführerverlag Bradt Travel Guides Slow Travel eine Buchreihe für Destinationen in Großbritannien.[8] 2012 formulierte der internationale Verlag Lonely Planet erste Ideen zu Slow Travel. Um Reisen besser zu genießen, schlugen sie u. a. vor: zu Wandern, mit dem Rad oder Moped zu fahren sowie eine Kamelreise oder Bootstour zu unternehmen. Hauptsache Entschleunigung.[9]
Bezüglich Auslastung und Umwelt sind die beliebten Urlaubsdestinationen sowieso an ihrer Grenze angelangt. Dazu zählen Barcelona, Venedig, Mallorca genauso wie Südostasien und das Himalaya-Gebirge in Nepal. Massentourismus hat einen schlechten Ruf und die Tourismusbranche befindet sich im Wandel. Bereits 2011 beschrieb das Zukunftsinstitut einen steigenden Trend hin zu mehr Individualität und Entschleunigung beim Reisen. Während es früher vermehrt darum ging, günstig möglichst weit weg zu kommen, sei eine Hinwendung zu mehr Komfort und Genuss zu erkennen. Die freie Zeit erfahre eine gesteigerte Wertschätzung. Die Menschen wollten im Urlaub nach Belieben entspannen und ihren individuellen Vorlieben nachgehen. Die Anzahl der Kurztrips, die Deutsche unternahmen, stieg vom Jahr 2002 bis 2010 um 40 % an. Zudem wuchs das Interesse an Städtereisen. Auch wurde nach Fortbewegungs-Arten gesucht, die Reisende komfortabel und stressfrei ans Ziel bringen.
Unter dem Stichwort „Feel Good Mobility“ entstand außerdem ein steigender Wunsch nach klimaneutralen Reisen. Reiseanbieter und Politiker der Urlaubsdestinationen sowie die Touristen selbst erkennen langsam, dass sie Teil eines globalen Problems sind. Diese neo-ökologische Einstellung wurde Teil des Slow Travel-Gedanken. Kurze Strecken sind nicht nur angenehmer für die Reisenden, sondern auch besser für die Umwelt.[10] 2019 bereisten 55,2 Millionen Deutsche mehr als fünf Tage das Inland – so viele, wie nie zuvor. Dazu gaben 25 % der Befragten an, das kommende Jahr in Deutschland Urlaub machen zu wollen.[11] Das Zukunftsinstitut prophezeite:
„Für die Genussreisenden von morgen kommt es nicht mehr darauf an, dass man überall hinfahren kann, sondern ob es sich lohnt, dort anzukommen.“[12]
Ab 2010 richteten erste Reiseanbieter ihr Angebot nach Slow Travel aus. Die Reiseagentur Slowtravel Experience bietet beispielsweise Reisen per Segelboot oder Transsibirischer Eisenbahn an. Der Brite Paul Sullivan gründete Slow Travel Berlin, ein Portal zum langsamen Erkunden der deutschen Hauptstadt. Er bietet Stadtführungen durch Einheimische in bewusst kleinem Rahmen – die maximale Teilnehmerzahl sind sechs Personen.[13]
Publikationen zu Slow Travel entstanden vor allem im englisch-sprachigen Raum. Relativ früh erschienen ist das Buch „Slow Travel and Tourism“ (2010), in dem Janet Dickinson die Potentiale von Slow Travel für den Tourismus erörtert. 2012 folgte „The Idle Traveler“ von Dan Kieran, eine Hommage auf die Rückbesinnung zum wahren Reisen. Dazu widmeten sich Autoren Slow Travel als Trend, wie beispielsweise Penny Watson, die in „Slow Travel. A Movement“ (2019) im Stil eines Magazins Reisedestinationen vorstellt. Konkrete Umsetzungstipps finden sich in Publikationen von Sarah Clemence mit „Away and Aware. A Field Guide to Mindful Travel” (2018) und Jennifer M. Sparks mit „Slow Travel. Escape the Grind and Explore the World” (2019).
In Bezug auf den deutschen Buchmarkt steckt Slow Travel noch in den Kinderschuhen. Einige wenige der englisch-sprachigen Bücher wurden ins Deutsche übersetzt. Dazu zählen „Slow Travel. Die Kunst des Reisens“ (2014) von Kieran und „Achtsam Reisen. Kabellos glücklich oder Wie dein Urlaub zur echten Auszeit wird“ (2018) von Clemence. Neben einzelnen Büchern, wie z. B. „Slow Travel. Ein Fragebuch für Reisende“ von Manuela Molk (2019) ist bisher aber noch nicht viel deutsch-sprachige Literatur zu erhalten.
[1] Vgl. Hollenstein, Oliver (2013): Schnelle, stressige Welt, In: https://www.sueddeutsche.de/leben/leben-unter-zeitdruck-schnelle-stressige-welt-1.1851807 (20.09.2020).
[2] Vgl. Slow Food Deutschland e.V. (2020): Wie Slow Food entstand, In: https://web.archive.org/web/20110413175245/http://www.slowfood.de/wirueberuns/wie_slow_food_entstand/ (20.09.2020).
[3] Vgl. Kenny, Pauline (2019): What is Slow Travel?, In: https://www.sloweurope.com/community/resources/what-is-slow-travel.140/ (26.09.2020).
[4] Ebd.
[5] Vgl. Ebd.
[6] Vgl. Gardner, Nicky (2009): A Manifesto for Slow Travel, In: https://www.slowtraveleurope.eu/slow-travel-manifesto (20.09.2020).
[7] Ebd.
[8] Vgl. Bradt Travel Guides (2020): Slow Travel, In: https://www.bradtguides.com/product-category/books/series/slow-travel/ (20.09.2020).
[9] Vgl. Lonely Planet (2012): World’s best slow travel, In: https://www.lonelyplanet.com/articles/world-e2-80-99s-best-slow-travel (20.09.2020).
[10] Vgl. Zukunftsinstitut GmbH (2011): Leisure Travel. Tourismus der Zukunft, In: https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/tourismus/leisure-travel-tourismus-der-zukunft/ (22.09.2020).
[11] Vgl. Graefe, Lena (2020): Statistiken zum Reiseverhalten der Deutschen, In: https://de.statista.com/themen/1342/reiseverhalten-der-deutschen/ (22.09.2020).
[12] Zukunftsinstitut GmbH (2011): Leisure Travel. Tourismus der Zukunft, In: https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/tourismus/leisure-travel-tourismus-der-zukunft/ (22.09.2020).
[13] Vgl. Slow Travel Berlin (2020): Tours & Workshops, In: http://www.slowtravelberlin.com/tours/ (20.09.2020).