Im Jahr 2016 brach der koreanische Architekt Nam Dongho zu einem Abenteuer auf. Er hatte einige Zeit in Amsterdam gearbeitet und steckte nun in einem unbefriedigenden Job in einem Architekturbüro in München fest. Seit längerer Zeit träumte er davon, eine Radtour zu seiner Heimatstadt Deagu in Südkorea zu unternehmen. Er kündigte seine Arbeit und begann ab 1. Mai bis 5. September 2016 eine atemberaubende, vier-monatige Reise nach Südkorea.
Die Strecke von München nach Deagu führte rund 15.000 km durch folgende Länder: Deutschland, Österreich, Kroatien, Slowenien, Bosnien und Herzegowina, Serbien, Bulgarien, Türkei, Georgien, Aserbaidschan, Kasachstan, Usbekistan, Kirgistan, China und schließlich Südkorea. Dongho radelte sagenhafte 5.000 km, jeden Tag etwa 60 bis 100 km. Die restlichen zwei Drittel der Strecke legte er mit Bussen, Bahnen und Schiffen zurück.
Die viermonatige Radtour entschleunigte definitiv Dondhos Reise zum Endziel, seinem Elternhaus. Aber sieht sich der Individualreisende als Slow Traveller?
Was ist die Hintergrundgeschichte zu deiner Reise? Was brachte dich dazu sie anzutreten?
Ich denke, es gibt immer viele Gründe. Ich war erstens von einem deutschen Freund inspiriert, der von Deutschland nach China geradelt war. Der zweite Grund war, dass ich in dem Jahr meine deutsche Aufenthaltsgenehmigung erhielt. Normalerweise ist das Recht für Nicht-Europäer in Deutschland zu bleiben an einen Job gebunden. Wenn man seinen Arbeitsplatz verliert, muss man das Land verlassen. Das bedeutete also, dass ich nun flexibler in Deutschland war und auch in meinen Entscheidungen. Ich hatte außerdem meinen Job satt, was wohl der dritte Grund war. Ich arbeitete für ein kleines Architekturbüro in München. Die Arbeit langweilte mich und meine zwei Chefs waren die ganze Zeit sehr gestresst. Ich musste dort raus. Dank der deutschen Aufenthaltsgenehmigung musste ich nicht direkt eine Arbeitsstelle im Anschluss finden.
Aber der wohl größte Grund für die Reise war der vierte: Ich war im Leben etwas verloren. Ich litt und der Schmerz war kaum auszuhalten. Ich war wahrscheinlich am engagiertesten, als ich an der Universität studierte. Ich liebte mein Fach – Architektur ist wirklich sehr interessant zu studieren. Im Berufsleben begriff ich, dass die Realität ganz anders ist als man es sich vorstellt. Ich denke, ich war auf der Suche nach etwas. Ich weiß nicht, was es genau war und ich weiß es bis heute nicht.
Ich brauchte Zeit für mich und Zeit über mein Leben nachzudenken. Vielleicht war ich auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Oder ich wollte einfach der miserablen Realität entkommen. Ich weiß nicht, welche Gründe stärker waren, aber all diese Gründe zusammen führten zu meiner Entscheidung.
Warum entschiedst du dich dafür alleine zu reisen?
Ich denke, nicht viele Menschen sind bereit so eine Art Reise zu unternehmen. Ich habe tatsächlich nicht einmal darüber nachgedacht, ob ich jemand finden könnte, der mitkommt. Außerdem wollte ich meine eigenen Freiheiten haben.
Was hast du vor deinem Reiseantritt geplant?
Ich habe nur das große Ganze geplant. Wo ich hinfuhr. Alles andere, wie Unterkünfte, Informationen zu den Ländern und kulturelle Gepflogenheiten, habe ich überhaupt nicht recherchiert. Das einzige was ich plante, war meinen Freund in Bosnien zu besuchen.
Als ich auf dem Land radelte brauchte ich eigentlich nie eine Unterkunft – ich konnte einfach in meinem Zelt schlafen. Wenn ich durch eine Stadt fuhr, buchte ich ein Zimmer, da es sehr schwer war in einer Stadt ein Platz für ein Zelt zu finden. Wenn ich ein Hostel- oder Hotelzimmer buchte, tat ich das meist nur ein oder zwei Tage davor. Ich couchsurfte auch in einigen Orten. Die Anfragen dafür mussten etwas früher gesendet werden, so etwa ein oder zwei Wochen davor. Couchsurfing war eine gute Methode, Einheimische kennen zu lernen und über ihre Stadt und ihr Land etwas zu lernen.
In Vorbereitung für die Reise bin ich viel Rad gefahren. In München betrug die Strecke von meiner Wohnung zur Arbeit 15 km. Jeden Tag fuhr ich 30 km zur Arbeit und zurück. Ich denke, das war ein ganz gutes Training für die Radtour.
Wie hast du die Natur während deiner Reise wahrgenommen?
Wenn du immer draußen bist, gehst du auf jeden Fall eine Verbindung mit der Natur ein. Ich habe nicht einmal die Wettervorhersage überprüft. Du kannst das aufkommende Wetter ganz einfach mit deinen eigenen Augen sehen oder du fühlst es. Du wirst quasi Eins mit der Natur. Dein Rhytmus ist derselbe wie der Rhytmus der Natur. Ich bin hauptsächlich in der Sommerzeit geradelt, also waren die Tage entsprechend lang. Ab 4.00 Uhr morgens wurde es langsam hell. Dann öffnete ich meist meine Augen, packte das Zelt zusammen und begann zu radeln. Ich konnte anhalten wann immer ich wollte, um die schöne Landschaft zu genießen, aber mit Ausnahme dieser kurzen Pausen, radelte ich weiter. Wenn ich darüber nachdenke, war ich die meiste Zeit der Reise in der Natur. Abends suchte ich dann eine Campingstelle und als es dunkel wurde, legte ich mich schlafen.
Aber in der Natur zu sein war nicht immer angenehm. Meine Reise war definitiv von allen möglichen Wetterarten beeinflusst. Als ich die Reise am 1. Mai antrat, dachte ich Mai sei nicht kalt. Weit gefehlt! Ich versuchte die Österreichischen Alpen zu überqueren, aber als ich einen Pass erreichte waren dort riesige Schneeberge und viel zu viel Schnee. Für die eine Nacht campte ich dort, aber es war viel zu kalt. Im Endeffekt schaffte ich es nicht, dort die Alpen zu überqueren.
Ich habe während der Reise auch bemerkenswerte Veränderungen in der Landschaft beobachtet. Als ich in Aserbaidschan war durchquerte ich das ländliche Gebiet zweimal, da ich in Baku auf ein Visa für Usbekistan wartete. Das dauerte ziemlich lange und ich wollte nicht so lange in einer Stadt bleiben. Also stieg ich in einen Bus und nahm eine andere Strecke um Baku erneut zu erreichen. Anfangs hatte ich eine Strecke im Süden befahren, wo das Land sehr trocken und karg war. Beim zweiten Mal nahm ich eine nördliche Route, wo mich das Grün der Landschaft wirklich überraschte.
Später geriet ich dann in ein total gegensätzliches Wetter zu den Österreichischen Alpen. Wegen des unglaublich heißen Wetters musste ich in Tashkent in Usbekistan mehrere Tage pausieren. Noch nie zuvor in meinem Leben hatte ich solch eine Hitze erlebt. Wenn ich mich richtig erinnere waren es fast 50 Grad.
Aber das wohl schönste Naturerlebnis hatte ich in Kirgistan. Nach der trockenen Landschaft Usbekistans war die Natur dort unglaublich schön. Kirgistan ist am Ende der Himalaya-Region gelegten und sehr bergig. Ich radelte einen 3.500 m hohen Gebirgspass hinauf. Während des Anstiegs durchlebte ich sehr warmes Wetter am Fuße des Berges bis zu Schnee an der Spitze.
Hast du längere Pausen entlang der Strecke gemacht?
Ja, ich habe einige Pausen entlang der Reiseroute gemacht, aber hauptsächlich aus organisatorischen oder gesundheitlichen Gründen. Ich blieb fünf Tage in Tbilisi in Georgien, da ich eine Lebensmittelvergiftung hatte. In Baku in Aserbaidschan wartete ich vier oder fünf Tage auf mein Visa für Usbekistan. In Usbekistan pausierte ich vier oder fünf Tage, weil es, wie bereits erwähnt, schlichtweg zu heiß war um Rad zu fahren. Im Hostel habe ich ein deutsches Paar kennengelernt. Später, in Bishkek in Krigistan machte ich eine weitere Pause. Der nächste Teil der Reise würde sehr bergig werden, deshalb wollte ich ausruhen, bevor die harte Strecke begann. Eine Woche lang hielt ich mich in einem Ort auf, der sehr berühmt ist unter Radfahrern und trag viele andere Langstrecken-Radreisende. Das deutsche Paar, das ich in Tashkent kennenlernte, schrieben mir, dass sie in Osh in Kirgistan waren. Da Osh auf meiner Strecke lag, traf ich sie und lernte über sie einen weiteren Deutschen kennen. Wir blieben dort gemeinsam fünf Tage.
Ein anderer sehr interessanter Ort, an dem ich länger war war Kashgar in China. Die Stadt liegt im Westen Chinas. Die Einheimischen dort identifizieren sich nicht wirklich als Chinesen und wollen unabhängig sein. Aber für China ist Kashgar geographisch sehr wichtig. Deshalb arbeitet die chinesische Regierung verstärkt daran, die Menschen dort zu kontrollieren. Die Menschen vor Ort nennt man Uyghuren. Ursprünglich aus der Türkei stammend, sind sie eine muslimische Kultur. Die Geschichte und Kultur der Stadt waren sehr interessant. Der andere Vorteil war, dass ich dort viele Radfahrer kennenlernte: ein Schweizer, zwei Niederländer und einen Deutschen, den ich bereits aus Osh kannte.
Hast du während deiner Reise Freundschaften geschlossen?
Wenn ich darüber nachdenke, habe ich während meiner Reise nicht wirklich aktiv versucht mit Einheimischen in Kontakt zu kommen. Aber es gab entlang der Strecke immer Einheimische, die mich zum Tee eingeladen haben. Ansonsten radelte ich aber weiter. Die Freundschaften, die ich auf der Reise schloss waren ausnahmslos andere Radfahrer. Ich mochte sie alle. Außerdem trafen wir uns unter besonderen Bedingungen, alle auf Langzeitreisen auf dem Weg zu einem Ziel. Leute in Orten zu treffen, in denen sonst nichts ist, ist sehr interessant. Mit einigen bliebt ich in Kontakt, aber wir verloren uns mit der Zeit aus den Augen. Aber ich denke, das ist in Ordnung. Wir sind in der Erinnerung des anderen, schätze ich.
Gab es Unerwartetes oder gar Katastrophen während deiner Reise?
Ich hatte keine wirklich ernsthaften Probleme, aber es gab ein paar Schwierigkeiten. Eine der interessantesten Geschichten passierte am 10. Juni, als ich von der aserbaidschanischen Polizei verhaftet wurde. Es war der 40. Tag meiner Reise und ich hatte gerade die Grenze zu Aserbaidschan übertreten. Es regnete leicht, aber es war nicht so stark und ich radelte weiter. Wie immer machte ich ein paar Fotos entlang des Weges. Plötzlich, etwa 15 km im Inland, wurde ich von fünf Soldaten gestoppt. Glücklicherweise sprach einer von ihnen Englisch. Er sagte mir, ich solle ihnen meine Fotos zeigen. Sie begutachteten sie und es schien alles in Ordnung. Der englisch-sprachige Soldat meinte, es wäre kein großes Ding. Wie auch immer, sie mussten mich bei der Polizei melden und bald kamen einige Polizisten und befahlen mir, mit meinem Rad in ihr Auto zu steigen. Mein Rad passte kaum in das kleine Polizeiauto, aber irgendwie schafften wir es, alles unterzubringen. Ich hoffte, wir würden etwas weiter entlang der Strecke fahren, aber das Auto fuhr die gesamte Strecke zurück, die ich bereits geradelt war. Die Polizeistation lag in einem sehr kleinen Dorf, das noch nicht einmal auf einer Landkarte verzeichnet war. Bald regnete es stark und ich war ziemlich zufrieden mit meiner Verhaftung. Die vier Polizisten in der Station waren auch alles sehr freundlich und nett.
Ich saß dort etwa zwei Stunden und es schien, als würden wir auf etwas warten. Ich wusste nicht was los war. Und in der Polizeistation sprach niemand Englisch. Es regnete jedenfalls und ich konnte sowieso nirgends hin, also kümmerte ich mich nicht weiter darum. Schließlich kam der Leiter der Polizeistation mit einem Übersetzer. Er begann mich zu befragen. Wenn ich es runterbreche, fand die Unterhaltung in etwa wie folgt statt:
Polizei: „Was machst du hier? Warum hast du Bilder von diesem und jenem gemacht?“
Ich: „Ich bin ein Tourist. Ich mache Bilder von allem Möglichen.“
Polizei: „Ich glaube dir nicht. Warum bist du nach Aserbaidschan gekommen? Bist du ein Geheimagent, der die Öl-Pipeline unserer Stadt ausspioniert?“
Ich: „Sorry, ich wusste davon gar nichts. Ich weiß überhaupt nichts über ihre Stadt. Ich bin nur ein Tourist.“
Polizei: „Ich glaube dir nicht. Ich mag dein Gesicht nicht. Ich weiß, dass du lügst. Was hast du hier zu suchen?“
In dem Stil ging es etwa zwei Stunden weiter. Es machte mich verrückt. Später kam ein anderer Mann dazu, wahrscheinlich in einer noch höheren Position. Er hatte mehr oder weniger dieselben Fragen. Endlich, nach vier oder fünf Studen durfte ich die Polizeistation verlassen.
Es regnete immer noch, aber ich wollte dort einfach nur weg. Deshalb stieg ich auf mein Rad und fuhr im Regen weiter. Ich fuhr bereits seit eineinhalb Stunden im Regen, als das Wetter immer schlimmer wurde. Es war nichts um mich herum. Absolut nichts. Kein Haus, keine Busstation, kein Baum, kein Dach. Nur die Straße und das leere Feld. Wie dem auch sei, ich habe immer Glück. Ich sah einen Schiffscontainer mit einer Person darin am Straßenrand. Ich eilte zu dem Container und es stellte sich heraus, dass der Mann unglaublich freundlich war. Er bot mir viele Tassen Tee an und etwas zu Essen. Ich weiß nicht, wie ich die Situation am besten beschreiben kann. Klar ist, dass er definitiv meine Rettung war. Er lies mich auch in seinem Container schlafen für die Nacht. Ich hatte solch ein Glück und verspürte dem Fremden gegenüber eine große Dankbarkeit.
Was war das Beste an deiner Reise?
Jeder Moment.
Auf den zweiten Blick, ist es eine sehr schwere Frage. Tatsächlich frage ich mich das immer noch selbst, denn ich habe jeden Moment genossen als ich Rad gefahren bin. Ich war jeden Tag völlig zufrieden. Dabei radelte ich nur. Jeden Tag hatte ich etwas zu tun. In diesem Fall war es ein Ziel, das zu erreichen war. Ich sah viele verschiedenen Städte, Landschaften und Panoramen. Manchmal traf ich andere Menschen und wir unterhielten uns freundlich und lachten gemeinsam. Aber ich weiß nicht, was genau mich so zufrieden machte. Das wahrscheinlich beste an der Reise war, dass ich die Freiheit hatte meinen Weg selbst zu wählen. Ich war von niemandem abhängig. Ich war abhängig von meinem eigenen Willen.
Was hast du über dich selbst während der Reise gelernt? Hat sie dich verändert?
Meine ehrliche Antwort ist: Ich weiß es nicht. Ich habe sehr gelitten vor dem Trip. Ich weiß nicht, ob es daran lag, dass mein Leben in Deutschland so einsam war, weil ich so unglücklich in meinem Job war oder weil ich keinen Sinn im Leben finden konnte.
Die Reise hatte einen großen Einfluss auf mich. In jedem einzelnen Moment war ich glücklich. Es gab mir die Hoffnung, dass das Leben besser sein könnte. Ich dachte, ich hätte mich verändert. Zurück in Deutschland trat ich eine neue Stelle als Architekt an, aber es ging mir auch dort schlecht. Jetzt, nachdem ich meinen Job erneut gekündigt habe, realisiere ich, dass ich immer noch nicht weiß, ob ich etwas durch meine Reise gelernt habe.
Siehst du dich selbst als Slow Traveller?
Ich habe festgestellt, dass eine umweltfreundliche Einstellung und ein nachhaltiger Lebensstil sehr wichtig für Slow Travel ist. Aber ich bin mir dessen nicht so bewusst. Andererseits bin ich keine Person, die viel Umweltverschmutzung verursacht. Ich musste während meiner Reise nicht wirklich bewusste Entscheidungen treffen. Was ich für die Umwelt getan habe war kein Flugzeug zu nehmen. Aber das lag daran, dass es auf einer Radreise keinen Sinn machte. Natürlich war Radfahren gut für die Umwelt, aber das war nicht der Hauptgrund, warum ich mich für dieses Transportmittel entschieden hatte. Nichtsdestotrotz kann meine Reiseart definitiv als Slow Travel gelten.
Der wesentliche Punkt war jedenfalls die Zeit. Es war eine sehr minimalistische und bescheidene Reise, aber auf Zeit bezogen, war sie luxuriös. Ich hatte keinerlei Zeitdruck. Die langsame Fortbewegung störte mich überhaupt nicht. Vielleicht können die Entschleunigung, die Freiheit, die spürte und die Zufriedenheit, die ich in kleinen Dingen fand als Slow Travel zusammengefasst werden?
Was hältst du von dem neuen Reisetrend: Slow Travel?
Ich denke, dass Zeit der wesentliche Faktor ist. Wenn wenig Zeit vorhanden ist, kann die Reise mit einem regionalen Ansatz gelöst werden. Wenn man in der näheren Umgebung verreist, kann die Reise immer noch als Slow Travel umgesetzt werden. Aber ich schätze, diese zwei Reisearten befriedigen nicht viele Menschen. Wir wollen immer weit weg und wir haben nie genügend Zeit.
Nam Donghos Reise- und Architekturfotografie kann auf Instagram gefolgt werden: ndoftheworld
Ein Interview von Anika Neugart.